Hast du schon einmal vom Begriff „Embodiment” gehört? Vielleicht im Zusammenhang mit Yoga, Meditation, Therapie oder Persönlichkeitsentwicklung? Embodiment, auf Deutsch oft mit „Verkörperung“ übersetzt, ist ein Konzept, das in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Es geht darum, wie unser Denken, Fühlen und Handeln untrennbar mit unserem Körper verbunden ist.
Aber Achtung: Embodiment ist nicht gleich Embodiment. Es gibt unterschiedliche Ansätze, die sich in ihren Grundlagen, Methoden und Zielen teils deutlich unterscheiden. In diesem Artikel schauen wir uns zwei Hauptrichtungen genauer an: das wissenschaftliche und das spirituelle Embodiment.
Warum diese Unterscheidung wichtig ist? Weil sie dir hilft, Missverständnisse zu vermeiden, informierte Entscheidungen zu treffen und vor allem einen sicheren und für dich passenden Weg zu mehr Körperbewusstsein und Wohlbefinden zu finden.
Wissenschaftliches Embodiment: Evidenzbasierte Körperarbeit
Wissenschaftliches Embodiment basiert auf Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen wie den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Biomechanik oder der Traumaforschung. Es geht nicht darum, spirituelle oder esoterische Konzepte zu „beweisen“, sondern darum, die körperlichen Grundlagen unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu verstehen und dieses Wissen für praktische Anwendungen in unserem Alltag zu nutzen.
- Definition und Grundlagen: Wissenschaftliches Embodiment geht davon aus, dass unser Geist nicht nur im Gehirn existiert, sondern im gesamten Körper „verkörpert“ ist. Unsere Körperhaltung, unsere Bewegungen, unsere Atmung, ja sogar die Aktivität unserer Organe beeinflussen, wie wir denken und fühlen – und umgekehrt (Bidirektionalität). Ein zentraler Begriff ist die Selbstregulation: Die Fähigkeit unseres Körpers, sich selbst ins Gleichgewicht zu bringen, Stress abzubauen und sich von belastenden Erfahrungen zu erholen. Diese Wechselwirkung von Körper und Psyche wird auch in dem Buch Embodiment von Cantieni et al. (2017) ausführlich beschrieben.
- Methoden und Ziele: Wissenschaftlich fundierte Embodiment-Methoden sind zum Beispiel:
- Achtsamkeitspraxis (z.B. Bodyscan)
- Somatische Therapieformen (z.B. Somatic Experiencing, Sensorimotor Psychotherapy, EMDR, IFS)
- Feldenkrais-Methode
- Non-Linear Movement Method
- Alexander-Technik
- Bestimmte Yoga-Formen (mit Fokus auf Körperwahrnehmung)
- Biofeedback
- Die Ziele sind vielfältig: Stressreduktion, verbesserte Körperwahrnehmung, emotionale Regulation, Schmerzmanagement, Trauma-Integration, verbesserte Bewegungsabläufe uvm.
- Rolle des Nervensystems: Eine Schlüsselrolle spielt das autonome Nervensystem, das unbewusste Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Verdauung steuert. Insbesondere der Vagusnerv, der als Hauptkommunikationsweg zwischen Gehirn, Herz und Bauch fungiert, ist für die Regulation von Stress und Entspannung wichtig. Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (2011) erklärt, wie unser Nervensystem auf Bedrohung reagiert und wie wir durch gezielte Stimulation des Vagusnervs Sicherheit und soziale Verbundenheit fördern können.
- Forschung: Studien belegen die Wirksamkeit von Embodiment-Ansätzen. Zum Beispiel zeigt die Forschung von Bessel van der Kolk (2014) und Peter Levine (Mitbegründer von Somatic Experiencing; Levine, 2010), dass somatische Therapie bei der Verarbeitung von Traumata helfen kann, indem sie den Körper als Ressource nutzt. Andere Studien belegen die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit auf Stress, Angst und Depression (z.B. Fogel, 2009). Payne, Levine und Crane-Godreau (2015) betonen die Bedeutung von Interozeption und Propriozeption (Körperwahrnehmung) als Kernelemente der Traumatherapie. Embodiment wird auch in anderen Bereichen, wie Coaching und Training, immer wichtiger (Storch, Tschacher & Weber, 2018).
- Vorteile: Wissenschaftliches Embodiment bietet einen fundierten und sicheren Weg zu mehr Körperbewusstsein, emotionaler Regulation, Trauma-Integration, Stress-Reduktion und allgemeinem Wohlbefinden.
Spirituelles Embodiment: Intuition, Energie und Transzendenz
Spirituelles Embodiment basiert oft auf traditionellen spirituellen Lehren, esoterischen Praktiken und Glaubenssystemen. Es geht häufig darum, durch Körperarbeit eine Verbindung zu einer höheren Macht, einem höheren Selbst oder einer universellen Energie herzustellen.
- Definition und Grundlagen: Spirituelles Embodiment betont die Rolle von Intuition, persönlicher Erfahrung und oft auch von Energiearbeit. Der Körper wird als Tor zu spirituellem Wachstum und Erleuchtung betrachtet.
- Methoden und Ziele: Methoden sind z.B.:
- Bestimmte Yoga- und Meditationsformen (mit Fokus auf Energiearbeit, Chakren, Erleuchtung)
- Schamanische Praktiken
- Energieheilung (z.B. Reiki)
- Atemarbeit (z.B. holotropes Atmen)
- Tantra
- Bestimmte Formen der Körperarbeit (mit Fokus auf Energieübertragung)
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- Die Ziele sind oft: Spirituelles Erwachen, Verbindung mit einer höheren Macht, Transzendenz, Heilung auf energetischer Ebene und Auflösung des Ego.
- Rolle des „Heilers“: In vielen spirituellen Embodiment-Traditionen gibt es die Figur eines „Heilers“, Gurus oder Meisters, der über besonderes Wissen oder Fähigkeiten verfügt und den Prozess der Heilung oder Transformation anleitet.
- Potenzielle Risiken:
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- Spirituelles Bypassing: Spirituelle Praktiken können dazu missbraucht werden, unangenehme Gefühle oder ungelöste Probleme zu umgehen, anstatt sie zu verarbeiten (Welwood, 2000).
- Retraumatisierung: Intensive Praktiken wie stark emotionsauslösende Atemarbeit können bei traumatisierten Menschen zu einer Wiederholung alter Traumata führen, wenn sie nicht von qualifizierten Fachleuten begleitet werden.
- Abhängigkeit: Die Beziehung zu einem Guru kann zu Machtmissbrauch und Ausbeutung führen.
Überschneidungen und Grauzonen: Nicht immer eine klare Trennung
Es ist wichtig zu betonen, dass die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und spirituellem Embodiment nicht immer klar gezogen werden können. Manche Praktiken, wie zum Beispiel Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR), haben buddhistische Wurzeln, werden aber heute auch in wissenschaftlichen Kontexten eingesetzt und erforscht. Die Neurophänomenologie ist ein Forschungsansatz, der versucht, subjektive Erfahrungen (auch spirituelle) mit neurowissenschaftlichen Daten zu verbinden (Varela, 1996). Und es gibt ein wachsendes Feld der „verkörperten Spiritualität“, das anerkennt, dass spirituelle Erfahrungen oft tief im Körper verwurzelt sind, aber nicht unbedingt einen externen „Heiler“ benötigen.
Fazit: Finde deinen eigenen Weg
Wissenschaftliches und spirituelles Embodiment bieten unterschiedliche Zugänge zur Körperlichkeit. Der Hauptunterschied liegt im Fundament: Wissenschaftliches Embodiment stützt sich auf evidenzbasierte Erkenntnisse, während spirituelles Embodiment oft auf Glauben, Intuition und Tradition (= “Altes Wissen”) basiert. Beide Ansätze können wertvoll sein, aber es ist wichtig, sich der Unterschiede bewusst zu sein und einen Ansatz (oder eine Mischung der beiden) zu wählen, der zu den eigenen Bedürfnissen und Werten passt. Egal für welchen Weg du dich entscheidest: Höre auf deinen Körper, sei achtsam und übernimm Eigenverantwortung für dich, deinen Körper und dein Wohlbefinden.
Quellen:
- Cantieni, B., Hüther, G., Storch, M., & Tschacher, W. (2017). Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen (German Edition). Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG.
- Fogel, A. (2009). The psychophysiology of self-awareness: Rediscovering the lost art of body sense. WW Norton & Company.
- Levine, P. A. (2010). In an unspoken voice: How the body releases trauma and restores goodness. North Atlantic Books.
- Payne, P., Levine, P. A., & Crane-Godreau, M. A. (2015). Somatic experiencing: using interoception and proprioception as core elements of trauma therapy. Frontiers in psychology, 6, 93.
- Porges, S. W. (2011). The polyvagal theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation. WW Norton & Company.
- Storch, M., Tschacher, W., & Weber, J. (2018). Embodiment in coaching und training. Supervision: Mensch, Arbeit, Organisation, 3, 19-24.
- Van der Kolk, B. A. (2014). The body keeps the score: Brain, mind, and body in the healing of trauma. Viking.
- Varela, F. J. (1996). Neurophenomenology: A methodological remedy for the hard problem. Journal of consciousness studies, 3(4), 330-349.
Welwood, J. (2000). Toward a psychology of awakening: Buddhism, psychotherapy, and the path of personal and spiritual transformation. Shambhala Publications.